HEJAR - Großer Mann, kleine Liebe (Büyük Adam
Kücük Ask)
Interview mit Handan Ipekci Sie haben auch das Buch geschrieben zu HEJAR. Was war ihre erste
Idee zu HEJAR?
Handan Ipekci: Es war wichtig für mich, die Beziehung und die Fürsorge
des Richters zu dem kleinen Mädchen zu zeigen. Ich denke, daß es
für einen Film in erster Linie wichtig ist, menschliche Beziehungen
zu zeigen. In zweiter Linie zeige ich einen politischen Hintergrund.
Aber das Politische ist zweitrangig. Um die Zuschauer zu erreichen,
muß das Zwischenmenschliche im Vordergrund stehen. Die eigentliche
Handlung des Films beginnt erst, als das Mädchen in die Wohnung
kommt.
Sie arbeiten öfter mit Kindern zusammen, auch in ihrem zweiten
Film HEJAR. Was macht diese Anziehungskraft für Kinder bei ihrer
Arbeit aus?
HI: Es ist leichter für einen Regisseur mit Kindern zu arbeiten,
weil ein Kind immer so spielt, wie die Regie es verlangt. Vorausgesetzt,
die Beziehung zwischen Regisseur und Kind stimmt. Ein Erwachsener
kann schnell "über"-spielen, was ein Kind nie tun würde. Das ist
ein großes Glück, eine Chance!
Es gibt kein Happy End.
HI: Ja, es ist ein offenes Ende. Wenn das Mädchen
bei dem alten Richter geblieben wäre, wäre es ein amerikanischer
Film geworden. Ich ziehe es so vor. Aber ich denke, daß das
Mädchen zurück kommt. Ihre Beziehung ist nicht zu Ende.
Sie hat doch gerade begonnen und wird auch weitergehen.
Wie waren denn die Reaktionen des türkischen
Publikums auf HEJAR?
HI: Sie liebten den Film sofort. Und zwar beide Seiten,
Türken wie Kurden. Der Film läuft mit 13 Kopien in der
Türkei, auch im Südosten, wo Kurden leben, und hat bereits
mehr als 100.000 Zuschauer. In etwa sind es die gleichen Reaktionen
wie beim deutschen Publikum.
Wahrscheinlich, weil das kleine Mädchen solch
ein globaler Sympathieträger ist?
HI: Ja, und weil das Mädchen so empfindsam ist.
Die Zuschauer spüren genau diese Sensibilität und Zerbrechlichkeit
dieses Kindes.
Wie haben Sie denn das Mädchen gefunden?
HI: Wir haben eine Annonce in einer Zeitung aufgegeben,
die von Kurden gelesen wird. Daraufhin haben sich über 150
Familien gemeldet, die meinten, daß das kurdische Thema über
ihre Familie ins Kino kommen solle. Als ich Dilan, die die HEJAR
spielt, zum ersten Mal sah, wußte ich sofort, daß sie
HEJAR war. Sie hatte so ein charakteristisches Gesicht. Und sie
war ein ganz normales Kind. Zu Beginn war es ganz schön schwierig
mit ihr zu arbeiten.
Wie haben Sie aus Dilan eine Profischauspielerin
gemacht?
HI: Ich begann mit ihr das Drehbuch zu lesen und ich
erzählte ihr die Geschichte. Sie ist ein ganz empfindsames
Mädchen. Sie fing zu weinen an, als sie die Geschichte von
HEJAR hörte. Wir arbeiteten drei Monate zusammen und trafen
uns jede Woche. Wir gingen zum Beispiel zusammen ins Theater, ins
Kino, in den Park. Sie mochte mich und wir liebten sie. Es war dann
eine ganz besondere Beziehung. Und wir gaben einander ein Versprechen:
wir werden es schaffen. Und als die Dreharbeiten begannen, war sie
bereits wie ein Profi. Manchmal war es schwierig, meistens war es
leicht. Wenn sie nicht spielen konnte, schob sie vor, sie hätte
was mit den Augen, oder Kopfweh, eben das, was Profis so tun.
Ist Dilan auch eine Kurdin?
HI: Ja, Dilan stammt aus einer kurdischen Familie, ist
geboren in Istanbul, spricht aber nur türkisch. Sie lernte
speziell für den Film kurdisch. Zuhause spricht die Familie
türkisch.
HEJAR ist ein kurdischer Name?
HI: HEJAR ist ein kurdischer Vorname und bedeutet Unterdrückung.
Der Vorname kommt so gut an, daß Familien in der Türkei
begannen, ihre Kinder nach dem Film zu benennen. Das zeigt doch,
wie positiv die kurdische Kultur durch den Film aufgenommen wurde.
Was sagte Dilan denn, als sie sich im fertigen Film
auf der Leinwand sah?
HI: Ach, sie mochte sich. Sie ist ein sehr interessantes
Kind. Sie ist ganz natürlich und nicht verzogen. Sie ist beinahe
wie erwachsen. Sie hat ja auch zwei Preise gewonnen, darunter für
die "Meist versprechendste Darstellung". Alle Kinder in
der Schule wollen jetzt neben ihr sitzen. Sie ist ein Star. Sie
meinte zum Verbot, daß er vielleicht nicht verboten worden
wäre, hätte sie in diesem Film nicht gespielt. Denn sie
weiß ja, daß sie Kurdin ist. Und sie weinte deshalb.
Aber die Eltern erklärten ihr, daß das Verbot nicht wegen
ihr ausgesprochen wurde.
HEJAR wurde in der Türkei verboten, obwohl er
gleichzeitig vom Staat gefördert wurde. Das ist doch erstaunlich?
HI: Ja, der Film wurde vom Kulturministerium gefördert
mit 45 Milliarden türkische Lira. Wenn ein Film abgedreht ist,
dann legen wir ihn einer Freigabebehörde vor. Jeder Film muß
also durch diese Freigabe. Und zunächst gaben sie den Film
frei für den Verleih. Hejar war fünf Monate in der Türkei
im Kino. Nach fünf Monaten gab es eine Wende. Ich verstand
nicht, warum. Und es war eine große Überraschung für
mich.
Aber die Oscar-Nominierung war doch vorher?
HI: Ja, im Februar wurde der Film nominiert. Nachdem
der Film fertig war, wurde er sofort nach Antalya eingeladen, und
hat dort auch fünf Preise bekommen. Und kurz darauf wurde er
von der Türkei für den Oscar nominiert. Dann war da eine
Verwirrung. Deshalb wußte man nicht sofort, ob man den Film
verbieten sollte oder nicht. Und hat erst mal Gras über die
Sache wachsen lassen. Sie haben ja fünf Monate gebraucht, um
zu entscheiden, ob man ihn verbieten soll oder nicht. Und erst nach
der Oscar-Verleihung wurde ihm die Freigabe entzogen.
Was ist denn der Grund für die Zurücknahme
der Freigabebescheinigung?
HI: Wissen Sie, es gibt zwei Lager in der Türkei.
Die einen wollen in die EU und die anderen nicht. HEJAR kam mitten
in diesem Streit der beiden Lager ins Kino. Mein Film ist ein Opfer
dieses Streits. Wir gingen allerdings vor Gericht. Und nach weiteren
fünf Monaten entschied das Gericht, daß der Film wieder
freigegeben wird. Daraufhin kam HEJAR in der Türkei wieder
ins Kino.
Haben Sie oder die Schauspieler jetzt Probleme mit
der Zensur?
HI: Nein, Gott sei Dank. Keiner wird behelligt. Es geht
nur um den Film. Die Schauspieler lieben HEJAR und stehen voll hinter
dem Film. Aber der Prozeß um HEJAR ist noch nicht zu Ende.
Kennen Sie andere Fälle von Filmzensur in der
Türkei?
HI: Nach meinem Film wollten sie zwei andere verbieten.
Aber Fernsehen und Zeitungen übten einen solchen Druck aus,
daß sie das Verbot zurücknehmen mußten.
Sind Sie selber Kurdin?
HI: Nein, ich bin Türkin. Ich stamme aus der Region
um das Schwarze Meer. Als ich ein Kind war, lebten wir im Südosten
der Türkei, weil mein Vater dort als Richter arbeitete. Deshalb
kenne ich die kurdischen Leute sehr gut und mag sie auch. Das ist
für mich kein Problem. Kurden und Türken leben doch zusammen
in einem Land. Aber es gibt Verständnis-Probleme und zwar auf
beiden Seiten. Auch die Minderheiten, die in diesem Land leben,
tragen zur Vielfalt bei. Ich war mir bewußt, daß ich
als Türkin mich dieser Verantwortung stelle und deshalb wollte
ich diesen Film drehen. Der pensionierte Richter ist ja einer, der
das Verbot der kurdischen Sprache vertritt. Und er wird quasi gezwungen,
kurdisch zu sprechen. Da wird Zukunft gezeigt, daß auch Türken
kurdisch sprechen können.
Im Film wird gezeigt, wie Kurden und Türken
in Istanbul zusammenleben. Können Sie etwas dazu sagen, wie
realitätsnah diese Darstellung ist?
HI: Sie leben Tür an Tür. Ganz gemischt. Dein
Nachbar könnte ein Türke oder Kurde sein. Gerade in Städten
wie Istanbul, Ankara oder Izmir leben die beiden Völker zusammen.
Und die Kurden haben grundsätzlich dieselben Rechte.
Wo liegen dann die Schwierigkeiten für Kurden?
HI: Es ist eher ein Problem der Gleichberechtigung.
Es gibt schließlich auch kurdische Anwälte oder Ärzte.
Wir haben hier sehr viel Arbeitslosigkeit. Es kommen eben sehr viele
Leute ohne Arbeit in die großen Städte, vor allem kurdische
Leute, um Arbeit zu finden. Sie bekommen keine gute Arbeit, weil
sie auch keine Ausbildung haben. Sie sind arm und nehmen deswegen
jegliche Arbeit an.
Es gibt auch eine Sprachbarriere?
HI: Ja, sie sprechen zuhause kurdisch, und erst in der
Grundschule lernen sie türkisch. Deshalb spricht Hejar kein
türkisch. Gerade ist ein gesellschaftlicher Umschwung im Gange.
Vielleicht wird in zwei Jahren auch in kurdisch an der Universität
gelehrt. Da gibt es einen gewaltigen Fortschritt.
Danke für das Gespräch.
Köln, im Dezember 2002
Das Interview ist dem Hejar - Presseheft
(Movienet Film GmbH) entnommen
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