Berlin,
 

NO MAN'S LAND

INTERVIEW MIT DANIS TANOVIC
VON JEAN - MARIECHARUAU

Sie haben "No Man's Land" nicht nur gedreht, sondern ebenfalls das Drehbuch, die Dialoge und die Musik geschrieben. In welchem Umfeld sind Sie geboren, da Sie so vielfältig sind?
Mein Vater arbeitet beim Fernsehen, aber er hat eine Ausbildung als Sprachwissenschaftler. Meine Mutter ist Musiklehrerin. Sie war es, die dafür gesorgt hat, dass ich eine musikalische Ausbildung bekam und die mich überzeugt hat, Kurse an einem Konservatorium für Musik zu belegen. Das war aber so nicht der Fall beim Kino: Meine Liebe zur siebten Kunst, meine wahre Liebe, wurde mir nicht von meinen Eltern übertragen. Diese Liebe war immer meine eigene. Als Kind wartete ich die ganze Woche über auf Samstag, um einen Film sehen zu können, und als Jugendlicher ging ich dann jeden Tag ins Kino.

Wie sind Sie Regisseur geworden? Haben Sie eine Filmschule besucht oder haben Sie Ihr Handwerk praktisch erlernt?
Am Ende meines (Zweit-) Studiums habe ich es geschafft, die Filmakademie in Sarajevo einzubeziehen, wo ich während des Studiums schon Filme gedreht hatte. Dann begann der Krieg, und ich bin mit meiner Kamera zur bosnischen Armee gegangen, um an der Front zu filmen. Das war die einzige Sache, die ich machen konnte. Zumal nur sehr wenige Menschen zu der Zeit an der Front gedreht haben, vor allem nicht auf der bosnischen Seite. So bin ich zum Dokumentarfilm gekommen.

Wenn ich Sie recht verstehe, scheint es für Sie völlig klar gewesen zu sein, dass Sie an der Front filmen mussten …
Das stimmt. Dabei muss man aber auch wissen, dass wir uns zu Beginn des Krieges niemals vorstellen konnten, dass er so lange dauern würde. Wir dachten, das sei eine Sache von einigen Wochen oder höchstens einigen Monaten. Und ich, ich wollte da sein. Das ist etwas, mit dem man sehr selten in seinem Leben konfrontiert wird: Die Entscheidung, ob man sich in einem Krieg engagieren soll oder nicht. In einem solchen Kontext muss man entweder fliehen, sich verstecken oder sich entscheiden zu kämpfen. Ich habe entschieden, mich zu engagieren. Dieser Schritt fiel mir auch insofern leichter, da die bosnische Armee die Ideen und Werte vertrat, die auch ich verfechte: Ideen und Werte, die das extreme Gegenteil zum serbischen Faschismus waren, den es zu besiegen galt. Ich habe nicht gezögert: Ich wollte an diesem Kampf teilnehmen, ich wollte filmen, was passierte. Also bin ich dorthin gegangen. Ohne zu wissen, dass es vier Jahre dauern sollte. Ohne zu ahnen, dass Sarajevo während dieser ganzen Zeit belagert sein würde.

Kurz nach Beginn des Konflikts haben Sie die Leitung des Filmarchivs der bosnischen Streitkräfte übernommen. Hat diese Abteilung schon vor dem Krieg existiert?
Nein. Aus dem guten und einfachen Grund, dass es gar keine bosnische Armee gab, als der Krieg ausbrach. Es waren einfache Leute, die sich entschlossen, mit Waffengewalt Widerstand zu leisten. Und unter diesen Menschen waren ein paar, die - wie ich - ihre Kamera mitnahmen. Zu Beginn filmten wir einfach drauflos, ohne irgendeine Ordnung. Erst nach einigen Monaten wurde uns klar, dass wir über eine Vielzahl äußerst wichtiger Bilder verfügten, die es verdienten, sorgfältig ausgewertet und bewahrt zu werden. Das war der Punkt, an dem wir eine Einheit mit dem Namen "Filmarchiv der Bosnischen Streitkräfte" (Archives du Film des Forces Bosniaques) gegründet haben.

Was bedeutete für Sie das Filmen dieses Konflikts? War es eine Form der Reaktion auf die Aggression, der das bosnische Volk ausgesetzt
war?

Ja, ganz sicher. Obwohl man in diesen Momenten natürlich nicht in solchen Begriffen denkt. Vor allem nicht als junger Mensch. Man versucht nur, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Erst danach beginnt man zu reflektieren. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, sage ich mir, dass meine Kamera mir auf eine bestimmte Weise das Leben gerettet hat. Sie hat mir das Leben gerettet, da man, wenn man Tag und Nacht unter albtraumhaften Bedingungen filmt, den Schmerz um sich herum gar nicht mehr wirklich wahrnimmt. Man versucht zu filmen so gut es eben geht, man konzentriert sich auf das Bild, auf die Farben, die Beleuchtung … und man vergisst ein bisschen den Horror, die Gefahr und den Tod, die überall sind und deren Zeuge man ständig ist. Die Kamera, die man bedient, wird sozusagen zu einem Filter zwischen sich selbst und der Realität. Sie beschützt uns. Wenigstens ist es das, was mit mir passiert ist. An so einem Punkt wie heute, wenn ich die Bilder, die ich damals
aufgenommen habe, wieder anschaue, erschrecke ich viel mehr darüber, als in der Zeit, als ich tatsächlich an der Front gedreht habe.

Unter diesen Bildern sind nicht nur Bilder aus dem Filmarchiv der bosnischen Armee, sondern auch Dokumentarfilme …
Zuerst sind da die Bilder aus dem Archiv, die einen Großteil meiner Zeit während des Krieges beansprucht haben und die in diversen Formen verwendet wurden: in verschiedenen Dokumentarfilmen, in Reportagen oder auch für Nachrichtensendungen in aller Welt. Es folgten dann Dokumentarfilme, die ich für die bosnische Armee aufgenommen habe, Filme wie: "Ein Jahr später", in dem ich ein Jahr des Krieges im Innersten der bosnischen Streitkräfte schildere. Dann gibt es schließlich noch Dokumentarfilme, die ich als mein eigener Chef gedreht habe, als ich ein bisschen Zeit hatte. Davon hatte ich allerdings nicht sehr viel, da ich jeden Tag mit meiner Kamera an der Front war, und da Sarajevo zu dieser Zeit wie eine ungeheure Frontlinie war, musste ich eigentlich überall gleichzeitig sein. Viel Material hatte ich auch nicht: Es fehlten die Videokassetten, der Strom, um die Batterie meiner Kamera aufzuladen … Deshalb habe ich auch z. B. sechs Monate gebraucht um "Portraits d'artistes pendant la guerre" aufzunehmen.

Wann und unter welchen Bedingungen haben Sie Sarajevo verlassen?
Ich habe Sarajevo im März 1994 verlassen, kurze Zeit, nachdem die Serben die großen Massaker auf dem Marktplatz der Stadt begangen haben. Die Spannung war zurückgegangen und wir dachten, dass der Konflikt kurz vor seinem Ende stand. Ich war erschöpft. Ich wog höchstens sechzig Kilo. Und außerdem hatte ich genug. Ich hatte wirklich genug davon. Ich erhielt eine Einladung in die Vereinigten Staaten. Man hat mir außerdem ein Stipendium gewährt, um mich nach Deutschland zu bringen. Also entschied ich mich auszureisen, ohne genau zu wissen, mit welchem Ziel oder für wie lange. Schließlich bin ich nach Belgien gefahren, weil dort ein sehr guter Freund von mir lebt. Dort hat man mir von INSAS erzählt, die eine sehr gute Filmschule sein sollte, und ich wurde angenommen, sofort im vierten Jahr. Das war alles im Jahr 1994. Vier Jahre später nahm ich die belgische Nationalität an. Seitdem bin ich sowohl Belgier als auch Bosnier.

Und nach Ihrer Ankunft in Belgien haben Sie den Dokumentarfilm aufgegeben,
um sich auf die Fiktion zu konzentrieren?
Ursprünglich hat mich sowieso nur die Fiktion interessiert. Mein Studium an der Filmakademie in Sarajevo konzentrierte sich auf dieses Gebiet. Es war fast gezwungenermaßen, dass ich zum Dokumentarfilm übergegangen bin, als der Konflikt ausbrach. Nach meiner Ankunft in Belgien war ich begeistert, an der INSAS meine Ausbildung fortführen zu können, die ich in Sarajevo begonnen hatte. Es war wie eine Rückkehr zu meiner ersten Liebe. Ich glaube, wenn es keinen Krieg gegeben hätte, hätte ich meinen ersten Spielfilm schon vor acht Jahren gedreht.

Was genau waren Ihre Absichten und Ihre Motivation, als Sie das Drehbuch zu "No Man's Land" geschrieben haben?
Ich wollte eine Geschichte erzählen, anhand derer man verstehen kann, was in Bosnien passiert ist. Das war meine Intention von Anfang an. Darüber hinaus hatte ich noch andere Wünsche. Von Beginn an wollte ich eine kleine Geschichte erzählen, die sich in einer beschränkten Zeitspanne und auf beschränktem Raum entwickelt. Ich wollte auf keinen Fall ein Epos filmen, ich wollte keinen "klassischen" Kriegsfilm machen, denn der Krieg ist weit entfernt von dem, was man in diesem Filmgenre sieht. Der Krieg, das ist eine Geistesverfassung. Es ist nicht der Lärm der feuernden Waffen oder die Propellerflügel eines Helikopters direkt über den Köpfen, auch wenn das natürlich dazugehört. Der Krieg, das ist vor allem das, was man im Kopf hat, wenn man ihn erlebt, und das, was davon im Kopf bleibt, während der Jahre danach. Das ist genau das, was ich zu bedenken geben wollte. Außerdem wollte ich das gegenwärtige Verhalten der verschiedenen Parteien gegenüber Bosnien darstellen. Ein beschämendes Verhalten. Und das noch heute, wo die Westmächte behaupten, das Land gerettet zu haben und nicht sehen wollen, was dort wirklich passiert.

Was passiert denn dort wirklich?
Das, was eben passiert, wenn man Opfer und Aggressor gleichstellt. Das was passieren muss, wenn man Serben, Bosnier und Kroaten alle in einen Sack steckt: Es wird ein Sack voller wilder und unzivilisierter Menschen. Das, was in Deutschland passiert wäre am Ende des Zweiten Weltkrieges, wenn Hitler und seine Helfer sich völlig ungestraft unter die Bevölkerung gemischt hätten, um sich zu verstecken. Das ist die Situation in Ex-Jugoslawien heute: Kriminelle wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic spazieren in Freiheit herum und niemand hindert sie daran.


Obwohl Sie eine zeitlich und räumlich "begrenzte" Geschichte erzählen, bringen Sie alle Akteure und Zuschauer des Konflikts mit hinein. DerInhalt, das Geschehen in Ihrem Film ist deshalb sehr groß. Hatten Sie dieses Ziel, als Sie mit dem Schreiben des Skripts anfingen?
Ein Drehbuch zu schreiben, das ist für mich wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Ich bin ausgegangen von der Idee einer Geschichte, die zwei Personen miteinander konfrontiert: Ein Bosnier und ein Serbe. Aber recht schnell sah ich, dass ich das nicht durchhalten konnte, da es unheimlich schwierig ist, sich für fast zwei Stunden auf nur zwei Personen zu stützen. Die Geschichten, bei denen das funktioniert, sind wirklich selten. Deswegen habe ich es vorgezogen, die Geschichten der anderen Protagonisten zu verstärken. Und ich hatte eine neue Idee, nämlich die Handlung zwischen beiden Frontlinien stattfinden zu lassen. Dieses Bild des "No Man's Land " schien mir perfekt zu symbolisieren, was in Bosnien passiert ist. Ich habe mich stark bemüht, die komplette Handlung in diesem Raum zwischen beiden Frontlinien zu konzentrieren. Und auf diese Weise bin ich dann auch zu der Schlusseinstellung gekommen, die den allein im Graben zurückbleibenden Bosnier zeigt, versteckt auf einer Mine, die bei der ersten Bewegung zu explodieren droht. Ein Bild, auf das ich ziemlich stolz bin, weil es für mich genau das repräsentiert, was mir die aktuelle Situation Bosniens zu sein scheint.


Haben andere Kriegsfilme oder Filme über andere Konflikte Ihre Fantasieangereichert, als Sie "No Man's Land " produziert haben?
Ich habe mich bemüht, nicht an andere Konflikte oder an irgendeinen anderen Film zu denken, weil ich auf keinen Fall etwas schon Existierendes reproduzieren wollte. Das hätte zu nichts geführt. Zumal es zum Bosnien-Konflikt sehr spezielle Bilder gibt, die von den Blauhelmen angefangen bis zu der Tatsache gehen, dass die sich bekämpfenden Völker ein und dieselbe Sprache sprechen. Das sind die spezifischen Elemente dieses Konflikts, die ich zeigen wollte. Also kann man sagen, dass ich Pionierarbeit geleistet habe.

Welchen Einfluss auf Ihre Sicht des Konflikts hatte die Tatsache, dass die beiden Völker dieselbe Sprache sprechen?
Das hat den Krieg noch absurder gemacht. Es ist die gleiche Absurdität, die auch im Werk von Samuel Beckett zu finden ist, die gleiche Unfähigkeit der Leute, miteinander zu kommunizieren. Ich hatte immer den Eindruck, dass der Konflikt, so wie ihn die Bosnier erlebt haben, in dem schönen Titel eines der Stücke dieses Dramaturgen zusammengefasst werden kann: "Warten auf Godot". Denn wir haben wirklich auf Godot gewartet. Wir haben während des ganzen Krieges nicht aufgehört zu warten. Wir warteten darauf, dass jemand kommen würde, um uns zu retten. Als wir glaubten, dass derjenige endlich ankommen würde, haben wir auf einmal verstanden, dass unsere Hoffnung vergeblich war und dass niemand jemals kommen würde: Als die Vereinten Nationen zu uns kamen, war es nur, um das Gesicht zu wahren; sicherlich nicht, um uns zu retten.

Ihr Film ergründet mit Humor den Begriff der verfeindeten Brüder. Glauben Sie, dass Bosnier und Serben Brüder waren, bevor sie zu Feinden wurden?
Ich habe auf diese Frage keine Antwort. Wie soll ich Ihnen erklären, dass ein Junge, mit dem ich zusammen studiert habe, mit dem ich allerhand
angestellt habe, mit dem zusammen ich den Mädchen hinterhergelaufen bin …wie erklären Sie, dass dieser Junge, der mein Freund war, von einem Tag auf den anderen ein Gewehr genommen hat, um in der Stadt auf alles zu schießen, was sich bewegt? … Ich selbst kann es mir nicht erklären. Manchmal kommt es mir vor, als ob die Mehrzahl der Leute, die sich so verhalten haben, so erst ihr wahres Gesicht gezeigt hätten: ein Gesicht voller Hass, gezeichnet von der Begierde nach Macht und dem Verlangen, alles auszuschalten, was andersartig ist. Und zur selben Zeit weiß ich, dass viele dieser Leute nur per Zufall in diese Rolle geraten sind, ohne vorher auch nur den geringsten Zorn in dieser Hinsicht zu spüren. Jeder in diesem Krieg hat seine eigene Vorgeschichte. Meine Geschichte hat z. B. nichts gemeinsam mit der eines anderen Bosniers aus Sarajevo, Srebrenica oder Mostar. Jeder hatte seine Gründe, am Konflikt teilzunehmen, jeder hat den Krieg auf seine Weise erlebt und jeder hat eine persönliche Sichtweise vertreten.

Sie verbreiten viel Humor. Wie in der Szene, wo mitten im Chaos jemand die Zeitung zusammenfaltet und kommentiert: "Was für ein Chaos in Ruanda." Wie würden Sie den Humor im Film beschreiben?
Der Humor in meinem Film, ist in der Tat derjenige, den wir selber während des Krieges empfunden haben, als das Lachen ein absolut notwendiges Ventil war, eine Art uns vom Horror um uns herum zu distanzieren, eine Frage des Überlebens. Es ist auch ein typisch bosnischer Humor: Ein Humor, der sehr eng beim Zynismus liegt und bei der Selbstironie, die die Engländer haben.

Hatten die zivile Bevölkerung wie auch die Kriegsteilnehmer während
des Krieges wirklich einen solchen Humor?

Nicht alle, aber für viele, wie eben auch für mich, war das Lachen überlebensnotwendig. Dank meiner Kamera, aber auch dank meines Humors blieb ich geistig gesund. Leider hat das nicht jeder geschafft. Sie wissen, dass es Leute gab, die wirklich verrückt wurden. Als ich Sarajevo verließ, war es eine Stadt der Zombies.


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Erscheinungsdatum: 7. Oktober 2002
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